Damals – als ich vier Monate lang die Entstehung unseres Schulgebäudes in den Kalrayan Hills überwachte, war ich oft allein. Der erste kleine Schulbetrieb hatte bereits begonnen, und ich erhielt regelmäßig Besuch von unseren Angestellten, die mit den Familien auf den Kalrayan Hills zusammenarbeiteten und diese dazu motivierten, ihre Töchter zur Schule zu schicken.

Ungefähr 100 Meter von meinem Zimmer entfernt befand sich die Bleibe unserer Putzfrau Ruth und ihres Ehemannes Simson (dem Wärter von INTACT SCHWEIZ). Das ältere Ehepaar hatte ein winziges Zimmer mit zwei Betten bezogen (die Betten ähnelten unseren bekannten zusammenklappbaren Liegestühlen, die wir im Sommer im Garten benutzen). Diese beiden waren meistens mit mir auf dem Campus, was mir oft half, wenn ich mich einsam fühlte. Nicht, dass ich mit ihnen plaudern konnte. Erstens sprachen sie nicht viel, und zweitens drückten sie sich meist nur durch Hand- oder Kopfbewegungen aus.

Es gab noch keine Küche. Ruth und Simson bereiteten ihr Essen daher auf einem offenen Feuer auf dem Campus zu. Ich selbst hatte einen Wasserkocher (oh, wie ich ihn liebte) und konnte – wenn ich Elektrizität hatte – eine Suppe mit dem Wasser anrühren oder eine Kanne Tee oder Kaffee zubereiten. Zum Mittagessen ging ich jeweils ins Dorf hinunter und holte mir ein Essen, eingepackt in Bananenblätter und Zeitungen. Abends wurde es um 18:00 Uhr dunkel, und als Frau war es nicht ratsam, noch ins Dorf zu gehen. Es war einfach zu gefährlich. Also organisierte ich einen Mann, der etwas aus dem Dorf holte – oder ich kochte mir eine Nudelsuppe mit dem Wasserkocher. Ich habe in dieser Zeit unzählige Nudelsuppen gegessen.

Nun gut. Was ich heute erzählen möchte, ist die Geschichte von Jeya.

Meine kleine Weihnachtsgeschichte
Die beginnt genau mit diesem Wärterehepaar, Ruth und Simson. Die beiden haben den Campus gut bewacht, auch wenn sie beide schon alt und nicht mehr so gut zu Fuß waren. Nur am Sonntag verschwanden sie, um den Gottesdienst in einer nahegelegenen Kirche zu besuchen.

Immer wieder hatte ich das Gefühl, Geräusche aus der Hütte des Wärterpaares zu hören. Manchmal hatte ich das Gefühl, es klinge wie die Stimme eines Kindes. Sicher war ich mir jedoch nicht.

Irgendwann habe ich sie gesehen. Ein kleines, dünnes Mädchen! Das Mädchen hatte wunderschöne grosse Augen. Sie war schrecklich dünn und hatte missgestaltete Beine. Aus ihrem Mund kamen nur wenige Laute. Unsere erste Begegnung verlief nicht sehr glücklich. Das Kind hatte schreckliche Angst vor mir. Ruth und Simson schienen, wie leider üblich in der Bergregion von Kalrayan Hills, das kleine Mädchen mit speziellen Bedürfnissen zu verstecken.

Beim nächsten Besuch unseres INTACT Mitarbeiters aus Trichy bitte ich ihn, die Angelegenheit mit dem kleinen Mädchen zu klären. Es wird klar, dass Ruth und Simson die Großeltern des kleinen Mädchens sind. Das Mädchen heisse Jeya. Die leibliche Mutter wollte Jeya nicht mehr. Die Großeltern kümmerten sich deshalb um Jeya.

INTACT India hat eine Schule und ein Heim für Kinder und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen in Trichy aufgebaut. Diese Schule ist etwa fünf Fahrstunden von Vellimalai entfernt. Mit Zustimmung der Großeltern wird Jeya nach Trichy gebracht. Das wird sicher keine einfache Zeit für das verängstigte Mädchen gewesen sein. Bis dahin hatte sie kaum Kontakt zur Außenwelt. Ihre Welt war das winzige Zimmer und die Großeltern.

Das war vor 20 Jahren. Heute, wenn ich Jeya im Campus in Trichy begegne, fühle ich einfach Freude. Ihre Augen strahlen mich an und geben meinem Herzen eine tiefe Wärme. Heute verdient sich Jeya einen kleinen Lohn, auch wenn sie große Mühe beim Gehen hat. Sie ist stolz auf ihr Können und auf ihren Platz in dieser kleinen Welt. Wenn Jeya mich sieht, kommt sie zu mir, berührt mich und lacht. Sie versucht möglichst immer bei mir zu sein. Wir beide sind glücklich – welcher Lohn!
In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern eine wunderschöne Weihnachtszeit!